Kapitel 12 von 12 | Das war 2022

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Ich bin ein Fan von großen Worten. Und von den kleinen. Den leisen und den geschrienen. In diesem Jahr waren sie mir wichtiger als jemals davor. Sie kamen immer genau dann, wenn ich sie hören, lesen oder schreiben musste, in den unerwartetsten Momenten, von den unterschiedlichsten Menschen . In diesem Jahr habe ich Worte gesammelt und dabei zugesehen, wie sie angefangen haben zu blühen. In mir und um mich herum hat ständig alles geblüht.

Dieser Text wird keine große Worte haben. Und viele schon gar nicht. Weil es a) wieder einmal viel zu spät ist – 31. Dezember, 18:20 ist ein guter Zeitpunkt um anzufangen, das Jahr zu reflektieren, oder?- und weil b) manchmal auch wenig Worte reichen.

Die Drei-Jahres-Theorie

Vor einem Jahr habe ich meine Freunde mit einer hochwissenschaftlichen, eigens empirisch erhobenen Studie vertraut gemacht: der Drei-Jahres-Theorie, die besagt, dass alle drei Jahre wieder ein richtig gutes Jahr kommt. Angesichts meiner Erinnerung hat diese These für mich sehr viel Sinn gemacht: 2013, 2016 und 2019 waren vergleichsweise federleichte Jahre meines Lebens, wohingegen 2020 und 2021 eher durch ihre Fülle an Herausforderungen geglänzt haben. Eventuell eine höchst subjektive Empfindung, aber ich hatte das (ebenfalls höchst wissenschaftliche) Gefühl, in vielen Punkten mit der kollektiven Wahrnehmung übereinzustimmen. Der Theorie, dass sich 2022 regelrecht als exorbitantes Jahr entwicklen musste, war also unbedingt zu folgen, und genau das tat ich dann auch. Und zwar sehr stur. Wann immer etwas schwierig war oder nicht wie erwartet funktionierte – es gab sehr viele solcher Momente, so ein Vorzeigejahr war 2022 dann auch nicht – habe ich mich, nach einem kurzen oder längeren obligatorischen Drama-Moment, davon überzeugt, dass das wohl einfach so kommen muss, dass 2022 schon weiß, was es tut. Ich habe dieses Jahr gelebt, wie ich meine Bücher schreibe: in der Überzeugung, dass es die Konflikte für den Spannungsbogen braucht, und für das erleichternde Ende, damit man das Buch schließlich zuschlägt, ohne sich einmal gelangweilt zu haben.

Lebensträume und Lernkurven

2022 als Beststellerroman? Ganz schön viele Erwartungen an ein einzelnes Jahr. Zumal es eins war, das in meiner Wahrnehmung radikal zweigeteilt war, zwischen der Sicherheit von Freiburg und der absoluten Schwebe meines Auslandssemesters. Aber so gruselig es war: ich wusste irgendwie die ganze Zeit, dass ich bereit dafür bin. Auch wenn meine Freunde an dieser Stelle wahrscheinlich lachen, weil sie mich noch das eine oder andere Mal vergewissern mussten, dass ich damit nicht falsch liege. „Mut wird belohnt“, sagt meine Freundin Magda unentwegt, drei jener besagten Worte, die mir dieses Jahr so wichtig geworden sind, also habe ich diesbezüglich mein Bestes gegeben. Mit dem Ergebnis, dass sich fast zeitgleich zwei Träume erfüllt haben, die ich schon hatte, seit ich ungefähr fünf war: mein Roman wurde von einer Literaturagentur unter Vertrag genommen und ich probiere es aus, wie es sich anfühlt, in Italien zu leben.
Das ist überhaupt das Schönste an diesem Jahr: dass ich wahnsinnig viel bekommen habe, aber nur, weil ich wahnsinnig viel getan habe. Ich bin 2022 dankbar für die Kraft und das Vertrauen, das es mir geliefert hat, aber ich kann auch mir dankbar sein, dass ich beides genutzt habe.

Jenseits vom Erreichen habe ich dieses Jahr hauptsächlich gelernt. Ich selbst zu sein, und das ok zu finden. Nicht gut, aber ok, und das reicht fürs Erste. Statt an Schwarz und Weiß zu glauben, habe ich dieses Jahr um die 50 verschiedene Töne von Grau kennengelernt. Was kompliziert, aber wichtig war. Dann habe ich mich darin geübt, meine unbehaglichen Gefühle über das Grauchaos auf dieser Welt auszuhalten, und alle anderen auch. Plötzlich war der Himmel wieder bunt. Ich habe gelernt, an mich zu glauben, und dass das manchmal auch bedeutet, nur so zu tun, als könnte man es. Ich habe gelernt, dass Zuhause in uns, nicht um uns ist, wie man Kaffee mit einer Mokka-Kanne kocht und ohne nachzudenken im italienischen Konjunktiv spricht (a volte, al meno).

Vor und hinter allem anderen habe ich gelernt: manchmal, nur ganz manchmal, ist dem Leben wirklich zu vertrauen. 2022 wusste wirklich, was es tun muss. Vom ersten bis zum letzten Tag.

Dystopische Kapitel

Das gilt für mich, aber leider nicht für eine Welt, die letztes Jahr um diese Zeit friedlicher war als jetzt. Was seit Februar in Europa passiert ist, hätte von mir aus auch gut und gerne eine gewagte Dystopie bleiben können. Stattdessen leben wir seit diesem Jahr in einer Realität, in der Krieg in Europa herrscht, in der die Klimakrise mit jedem Tag neue Wunden in die Welt reißt und Debatten aufwirft, die vor lauter Emotionalität und Sekundenkleber zu nichts mehr führen. Ein weiteres Jahr, in dem ich es manchmal nicht mehr aushalte, die Nachrichten anzusehen, nicht, weil sie so schlimm sind, sondern weil ich so taub und gleichgültig bin, und mich selbst nicht begreife dafür.

Wenn ich mir eins für das neue Jahr 2023 wünsche, dann dass in der Ukraine, und am besten auch sonst überall, kein Krieg mehr herrscht. Oder wie es die junge Ukrainerin, die seit diesem Frühling in meiner Familie ein neues Zuhause gefunden hat, formuliert hat: „Ich wünsche Ihnen in diesem Jahr einen glücklichen, gesunden und friedlichen Himmel für uns.“

2022 in 12 Kapiteln

Viel mehr muss ich über dieses Jahr nicht sagen – ihr wart dabei. Elf Mal habe ich jeden einzelnen Monat noch einmal zerlegt, durchlebt und festgehalten. Es war ein waghalsiges Projekt, während dem ich mich um die zehn Mal gefragt habe, wer zum Himmel das denn überhaupt lesen möchte. Aber dann – wart da ihr. Und habt es gelesen. Vielen Dank für jede einzelne Nachricht und jeden Austausch, der dadurch zustande gekommen bist. Auch wenn ich nicht glaube, dass ich 2023 hier auf dieselbe Art festhalte, es war eine unglaublich tolle Erfahrung, zu schreiben und gelesen zu werden. Letzteres wird im neuen Jahr 2023 hoffentlich nur mehr und nicht weniger!

Seit die Sonne in der schönstmöglichen Weise untergegangen ist, in der sich ein Jahr verabschieden kann, schließt sich das Buch einer langen Geschichte. Wenn ihr gerade noch einmal durch die Seiten blättert, hoffe ich, dass ihr auf jeder Seite zumindest ein unterstrichenes Wort, eine leuchtende Erinnerung oder einen besonderen Moment vorfindet. Das wünsche ich euch. Und falls nicht – in exakt fünfeinhalb Stunden beginnt der nächste Band davon.

Kommt gut in das neue Jahr. Ich freue mich schon, euch dort wiederzusehen.

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Worte aus 2022:

(aus Büchern, die das Jahr noch viel besser gemacht haben):

“In the darkness, two shadows, reaching through the hopeless, heavy dusk. Their hands meet, and light spills in a flood like a hundred golden urns pouring out of the sun.” 

Madeline Miller, The song of Achilles

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When you’re given an opportunity to change your life, be ready to do whatever it takes to make it happen. The world doesn’t give things, you take things.

Taylor Jenkins Reid, The Seven husbands of Evelyn Hugo

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“Ich habe immer geglaubt, das Leben sei eine Einladung mit Tischkärtchen. Als müsste man sich, schon aus Gründen der Höflichkeit, auf den Stuhl setzen, der einem zugewiesen wird, auch wenn es am anderen Ende des Tisches viel lebhafter zugeht.
Ich möchte Ihnen sagen: Das ist ein Irrtum. Es ist eine Einladung mit freier Platzwahl.” 

Mariana Levy, Die Herrenausstatterin

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“Wenn kein Charakter mehr geduldet wird, sondern nur der Gehorsam, geht die Wahrheit und die Lüge kommt.
Die Lüge, die Mutter aller Sünden.” 

Ödön von Hórvath, Jugend ohne Gott

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Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Hermann Hesse, Stufengedicht

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.