Die Lüge an uns selbst

Kategorien Gedanken
Essay im Rahmen des Deutschunterrichtes
Ich habe den interessanten Versuch gewagt, nachzudenken. Interessant deshalb, weil ich als 16-jährige, hormongesteuerte Teenagerin nicht all zu oft nachdenke. Ich lebe eher so in den Tag hinein, und da fängt es auch schon an. Also, das, über das ich nachgedacht habe. Also…Moment. Ich glaube ich beginne diesen Blogbeitrag noch einmal neu. Gelungener. Besser. Morgen….oder übermorgen.
Wenn morgens unser Wecker klingelt, drücken wir darauf, murmeln „Nur noch 5 Minuten“ und schlafen weiter. Für zwanzig Minuten. Beim Frühstück gibt es Toast mit Nutella, aber wir sind uns ganz sicher, dass morgen die Zeit der Haferflocken mit Chia-Samen beginnt.
In den 15 Minuten, die wir unerlaubter Weise mit Schlafen verbracht haben, hätten wir eigentlich für die Bioklausur lernen müssen. Jetzt hilft nur noch eins: der Spickzettel. Fakt ist, eigentlich hätten wir selbst lernen müssen, aber Fakt ist auch, wir brauchen nunmal die 9 Punkte, und der Weg, wie wir diese erreichen, spielt plötzlich nur noch eine untergeordnete Rolle.
Anderseits- sind es wirklich Lügen, mit denen unser Tag beginnt und endet? Wo fängt die Lüge an, und wie wird sie definiert? Laut Wikipedia ist das Lügen die Kommunikation subjektiver Unwahrheit. Das Ziel ist es, dem Gegenüber einen falschen Eindruck zu vermitteln, beziehungsweise diesen aufrecht zu erhalten. Dies klingt ohne Frage einleuchtend. Definitionen sind jedoch stets theoretisch anzusehen, und besonders in einem so komplexen Bereich wie dem des Lügen wird die Praxis oft anders ausgeprägt umgesetzt.
Wo findet die Praxis des Lügens anhand der Definition statt?
Dass wir unserem Gesprächspartner einen falschen Eindruck vermitteln wollen, fängt in der Schule an, wenn wir uns schlauer ausgeben, als wir es vielleicht sind und geht weiter über das Vorstellungsgespräch, in dem wir von ambitionierten Freizeitaktivitäten berichten, die wir gar nicht ausüben. Sind solche Dinge einmal ausgesprochen, bleibt kaum etwas anderes übrig, als sie aufrecht zu erhalten. Wer auffliegt, hat ein Problem. Mit Lehrer, Chef oder wohlmöglich sogar dem besten Freund, vor dem wir irgendwie besser, erfolgreicher oder stärker dastehen wollten.
Eine Lüge wird in der Wikipedia-Definition jedoch nicht direkt aufgegriffen: die handfeste Faktenlüge. Ihr Ziel  ist nicht, den Gegenüber zu beeindrucken. Sie wird benutzt, um möglichst ohne Umwege ans Ziel zu kommen, ein Ziel, dass normalerweise ohne Hügel und Gebirge nicht erreicht werden kann. Oft heißt dieses Ziel Freiheit. „Ich habe die Vase nicht fallen lassen, Mama, du brauchst mir keinen Hausarrest geben. Die Katze war´s.“ Diese Lüge hat den angenehmen Nebeneffekt, dass die Mutter das Kind als brav einschätzt- und zudem noch falsch verdächtigt. Im Vordergrund steht aber nicht der Eindruck, sondern der Spielmittag auf der Straße mit dem besten Freund. Mit gerade einmal vier Jahren wissen Kinder bereits, Lügen einzusetzen, um genau solche Dinge  zu erreichen. Was teils beängstigend klingt, lässt sich logisch erklären, wenn man die zahlreichen „Lügen“ betrachtet, mit denen Kinder von klein auf konfrontiert werden. Hier tritt wieder in Kraft, dass ein falscher Eindruck entstehen soll, nicht unbedingt von den Eltern, die die Lüge auf das Kind ausüben, sondern viel eher von der Welt im Allgemeinen. Wer lebt nicht gerne in einer Welt, in der die Zahnfee die Milchzähne abholt und Nikolaus, Christkind und Osterhase Geschenke bringen? Wer mit solchen Geschichten aufwächst, wird geschützt von der Grausamkeit, die die Welt beinhalten kann, und kann sich behütet entfalten, bis die Zeit da ist, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Die Schutzlüge- vielleicht eine weitere Definition.
Jenseits von der Lüge mit der zerbrochenen Vase fallen handfeste Lügen zwischen grauen Mauern: auch hier geht es um Freiheit, aber um die Wahre. Falschaussagen, Verleugnung einer Tat, falsche Beschuldigungen sind so sehr Lügen, weil sie die volle Bandbreite der gängigen Definition erfüllen. Es ist die Kommunikation subjektiver Unwahrheit, und der Eindruck eines Engels, den der Schwerverbrecher den Polizisten zu vermitteln versucht, ist schlichtweg und durch und durch falsch. Ein Grund für die Lüge: die Freiheit. Früher: die Angst um das eigene Leben.
Gut, kann man sich fragen, wieso also ein schlechtes Gewissen haben, wenn einem eine von durchschnittlich bis zu 200 Alltagslügen pro Tag entwischt?
Um noch einmal zurückzukommen auf die Schutzlüge, mit der Kinder berieselt werden, zählt diese nicht sogar zu den „guten Lügen“? Was für eine Art Mensch wären wir, hätten uns unsere Eltern von Anfang an mit den schlimmsten Dingen auf der Welt konfrontiert? Wo wäre unsere Fantasie und unser buntes Denken ohne die Geschichten vom Christkind und dem Mann im Mond, wo unsere gesunden Zähne ohne den Mythus von Karius und Baktus?
Und wo wäre unsere Sicherheit? Denke ich an Lügen, gehen meine ältesten Erinnerungen zurück an eine Ferienwoche in Heidelberg, gemeinsam mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester, die zu dieser Zeit noch im Kinderwagen lag. Es war mein erster Aufenthalt in einer größeren Stadt. Da wo ich herkomme, gibt es keine Hochhäuser, keine Anonymität und vor allem- keine Kriminalität.
Ich erinnere mich, wie wir durch die Stadt gelaufen sind, meine Mutter, meine Schwester im Kinderwagen und ich, und wie uns ein junger Mann angesprochen hat, ob wir wohl etwas Kleingeld für ihn hätten. Dabei sah er immer wieder zu einem Mann auf der anderen Straßenseite, der uns scharf beobachtete. Meine Mutter schüttelte den Kopf, und als der Mann nicht locker ließ, sagte sie: „Nein, tut mir Leid, und jetzt gehen Sie. Mein Mann ist zuständiger Polizeibeamter.“
Da ließ er unumgänglich von uns ab und verschwand in irgendeiner Straße Heidelbergs, und alles was ich mich – und meine Mutter- fragte, war: „Seit wann ist Papa Polizeibeamter? In Heidelberg?“  Ich war offensichtlich nicht auf dem neusten Stand.
Das war der Tag, an dem mir meine Mutter die Funktion einer Notlüge erklärte. Die Notlüge- Menschen schützend,  Probleme vermeidend, Katastrophen verhindernd. Es war das erste Mal, dass ich eine Lüge als etwas Positives kennegelernt habe. Es war faszinierend für mich- weil ich erkannte, welche Macht Worte haben können. Diese zwei Sätze konnten einen zumindest minimal Kriminellen dazu bringen, sein Vorhaben abzubrechen.
Lügen, habe ich seit diesem Tag so oft gedacht, können uns Sicherheit bringen. Und deswegen frage ich mich, ob wirklich alle Lügen so schlecht sind.
Zurück zu dieser Gruppierungssache, zu der die Schutz- und die Notlüge gehören. Jeder weiß,  dass es zwischen „Ihre Bluse gefällt mir!“ und „Ich habe diesen Menschen nicht umgebracht!“ Nuancen gibt, die die Definition der Lüge immer wieder aufwirbeln und in Frage stellen.
Jedoch unterscheidet die beiden genannten Beispiele nicht nur das Grad an Konsequenz und die Gruppierung, sondern noch etwas ganz anderes: mit Lüge eins richten wir uns an die stillose Arbeitskollegin, mit Lüge zwei- an uns selbst.
Diesmal wirklich: hier beginnt der Punkt, an dem ich begonnen habe, nachzudenken. Würde man mich fragen, wie oft ich bereits Freunde, sogenannte Freunde, Lehrer, oder sogar meine Eltern angelogen habe, müsste ich vermutlich eine hohe Zahl nennen. Zu hoch für einen Blogbeitrag, der vielleicht einmal in einem Plädoyer für die Wahrheit enden soll.
Es passiert so schnell, und es passiert uns allen.
Wir wollen uns selbst beeindrucken. Uns einreden, dass wir stark sind, wissend, konsequent, hübsch, wie auch immer. Diese Lüge an uns selbst fällt anderen unumgehbar auf: inform von Arroganz. Vielleicht ist dies der Grad zwischen Selbstbewusstsein und Arroganz. Selbstbewusste Menschen erzählen sich Fakten über sich, arrogante Menschen erzählen Lügen.
Etwas komplexer  ist die Spickzettel-Problematik. In meiner Schulklasse entfachte sich im Rahmen des Essay-Themas eine Diskussion darüber, ob das Benutzen von Spickzetteln eine Lüge an sich selbst ist. Die Meinungen waren durchaus kontorvers, ich für meinen Teil bin der Meinung, dass die Lüge dann anfängt, wenn man sich über die durch den Spickzettel erzielte Note freut. Man freut sich für eine Leistung, die man nicht erbracht hat, meiner Ansicht nach ein schwerer Betrug an sich selbst.
Dann diese Sache mit der Liebe. Und ja, auch mit 16 kann man sie kennen, die Liebe, die so weh tut, weil sie unerfüllt ist. Und man steht Tag für Tag vor dem Spiegel und sagt sich: Du liebst ihn nicht, du brauchst ihn nicht, er braucht dich nicht, und dann, wenn die Freunde einen fragen, lacht man auf und sagt: „Der da? Was war noch mal sein Name?“
Das sind die Lügen, die einen zermürben können. Keine Notlügen, die uns Sicherheit geben, sondern Scheinlügen an uns selbst, wenn wir versuchen, uns über Wasser zu halten. Aber die Welle wird kommen. Mit aller Wucht.
In diesem Beitrag habe ich viel philosophiert über die Gründe, die uns zum Lügen bewegen. Vor allem im Umgang mit anderen erscheinen vielen Menschen die Gründe oft auch nachvollziehbar, nützlich, höflich und  unvermeidbar.
Meine Frage ist nur: wenn es schon falsch und problematisch ist, andere Menschen anzulügen, wieso tun wir es uns dann ohne mit der Wimper zu zucken mit uns selbst? Theoretisch gesehen ist es unlogisch, dass wir das tun, aber praktisch machen wir es Tag für Tag. Dafür weiß ich keine Antwort. Und wie gesagt: ich bin eine sechzehnjährige, hormongesteuerte Teenagerin, die nicht allzu viel nachdenkt. Also keine Ahnung…diese Frage wird vielleicht morgen beantwortet.
Jetzt bleiben mir noch zwei Aufgaben übrig. Ich wollte über die Folgen des Lügens schreiben, und diesen Beitrag mit einem Plädoyer an die Wahrheit beenden. Wieso nicht diese beiden Dinge verbinden? Und wieso nicht so kurz und knapp, dass es jeder versteht?
Lügen haben kurze Beine, und eine ellenlange Holznase ist auch nicht so der Hit. Menschen beginnen, uns zu misstrauen, sie sind enttäuscht, wütend, irritiert, zerstört verletzt. Wir werden missachtet, angestarrt, eingesperrt – aber alles das ist nichts gegen das hässliche, schwarze Gefühl der Lüge, dass sich in einem Leben ohne Wahrheit in uns einnistet. Vielleicht müssen wir lügen. Um zu schützen, zu bestehen, zu überleben. Aber vielleicht müssen wir viel viel mehr auch die Wahrheit sagen- niemandem zu liebe, außer uns selbst.
Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.